Wenn die Menge der Angebote steigt, wird es nicht besser: Die Deutschen zeigen sich zunehmend genervt von der Trivialität der Medien. In einer vom Bremer Methoden- und Beratungsunternehmen nextpractice durchgeführten Interview-Studie zu den Veränderungen in der Medienlandschaft zeichnet sich das Dilemma klar ab:
„Die Befragten kritisieren in überraschender Deutlichkeit die für das Web 2.0 typischen Angebote mit weitgehend ungefilterten, nutzergenerierten Inhalten als oberflächlich und nicht förderlich für die eigene Entwicklung“, fasst Professor Peter Kruse, geschäftsführender Gesellschafter von nextpractice, das Ergebnis der Studie zusammen. „Auch wenn das tatsächliche Konsumverhalten oft noch eine andere Sprache spricht, suchen die Menschen verstärkt nach Medien, die sie dabei unterstützen, sich zurecht zu finden und Zusammenhänge zu verstehen.“
Ohne angemessene Bewertungsmechanismen erstickt das Internet an der Masse der eingepflegten Informationen. Demnach macht sich angesichts von Kurzfristigkeit und fehlendem Tiefgang selbst bei der Einschätzung des reinen Unterhaltungswertes mittlerweile Enttäuschung breit: „Rundherum positiv schneiden tatsächlich nur noch Internet-Angebote ab, bei denen die Inhalte entweder sorgfältig von einer Redaktion überarbeitet werden oder wie etwa bei Wikipedia einem anderen Verfahren unterliegen, das die Qualität sichert.“
Generell schätzen die Nutzer am Web 2.0 zwar, dass man sich aktiv einbringen und mit Gleichgesinnten vernetzen kann. Aber die ehedem hoch gelobten Angebote wie Youtube, Second Life und Blogs werden bereits in großer Distanz zu den persönlichen Wunschvorstellungen gesehen. „In der intuitiven Bewertung liegen diese Angebote bereits nah bei Boulevardpresse und Trash-TV“, erläutert Peter Kruse die neue Wertewelt der Mediennutzer. „Man schaut zwar hin, fragt sich aber gleichzeitig, warum man eigentlich noch hinschaut.“ Die Hoffnungen, die ins Internet gesetzt werden, beziehen sich eher auf innovative Formen der medialen Aufbereitung von Informationen und auf die Erleichterung sozialer Austauschprozesse. Große Hilflosigkeit macht sich breit angesichts der schieren Menge der Inhalte. Die Nutzer befürchten, dass in allen Medien die Tendenz zur Trivialisierung weiter voranschreitet.
Fazit: „Das Mitmach-Web 2.0 verliert an Faszination. Der Hunger nach Qualität steigt“, so Kruse. Die plakative Medienschelte des gerade bundesweit in den Kinos angelaufenen Films „Free Rainer“ von Hans Weingartner trifft demnach durchaus einen sensiblen Punkt. Allerdings ist die Quotenorientierung im Fernsehen, die im Mittelpunkt der Satire steht, nur ein Symptom für das zu Grunde liegende Problem. Die Ergebnisse der nextpractice-Studie legen nahe, dass sich die Erwartungshaltungen der Nutzer in eine Richtung verändern, die von den professionellen Medienmachern nicht hinreichend wahrgenommen und bedient wird. Die Annahme, dass nur massentauglich sein kann, was auffallend oder leicht verdaulich ist, stimmt nicht mit den Wertepräferenzen der in der Studie befragten Konsumenten überein.
Die Nutzer wünschen sich nach Aussage des nextpractice-Chefs Medien, die die Vorzüge eines guten Journalismus mit den Möglichkeiten des Web 2.0 verknüpfen. „Für die Befragten verbindet das ideale Medium die Aspekte Komplexitätsreduktion, Nachhaltigkeit und Sinnstiftung mit Formen aktiver Beteiligung und spontaner Eigendynamik. Es trennt Wichtiges von Unwichtigem, erhöht das Verständnis für die Welt und liefert authentische Informationen, die eine hohe Alltagsrelevanz besitzen.“
Der wissenschaftliche Leiter der Studie erläutert darüber hinaus: „Bemühungen, die Informationsflut im Internet durch persönliche Empfehlungen, aktive Kategorisierung oder Social Bookmarking zu lösen, sind auf Dauer nicht geeignet, das Mengenproblem zu lösen und das System zu entlasten.“ Im Gegenteil: Die Vielfalt von Primärinformationen werde lediglich um die Vielfalt individueller Strukturierungsvorschläge erweitert und die Unübersichtlichkeit nur noch weiter vergrößert. „Wenn die Zahl potentieller Berater in einem System ebenso schnell steigt wie die Zahl der potentiellen Probleme, dann werden die Berater selbst zum Problem“, bringt es der Professor auf den Punkt.
In letzter Konsequenz könnte die anfängliche Web 2.0-Euphorie und deren Auswirkung auf die Medienlandschaft dazu führen, dass eine zweite Internet-Blase nun im Kopf des Nutzers und nicht wie beim ersten Mal an der Börse platzt. „Je mehr Menschen sich aktiv daran beteiligen, das Netz mit Inhalten zu fluten, desto wichtiger und gleichzeitig schwieriger wird es, etwas zu finden, dass man brauchen kann. Ohne innovative Suchmechanismen und die Erhöhung der Bedeutungshaltigkeit entwickelt sich das Internet zum Dinosaurier – großer Körper und zu kleines Hirn“, warnt Peter Kruse.
Die Faszination der überbordenden Vielfalt sei schnell verflogen und die Frage nach dem realen Mehrwert trete in den Vordergrund: „Mit der Demokratisierung des Zugangs zu Informationen wird die Bewertung von Information immer mehr zum kritischen Erfolgsfaktor. Kurz gesagt: Die Menschen wollen Medien, die sie nicht nur einfach unterhalten, sondern wirklich persönlich weiterbringen“, weiß der Trendforscher. „In Zukunft haben besonders die Medienunternehmen und Dienstleistungen Chancen im Wettbewerb, denen es gelingt, attraktive Darstellungsformen, offene Vernetzung und orientierende Ordnungsbildung miteinander zu verbinden. “
Zur Studie
Im Sommer 2007 befragte nextpractice 150 Personen in mehrstündigen Tiefeninterviews zu ihrer Mediennutzung, ihren Einschätzungen von Gegenwart und Zukunft verschiedener Informationskanäle, zu Medienmarken sowie zu ihren persönlichen Wertemustern. Dabei wurde das IT-gestützte psychologische Verfahren nextexpertizer verwendet, das es erlaubt, auch unbewusste Einstellungen und Bewertungen offen zu legen. Das Unternehmen nextpractice hat in der jüngsten Vergangenheit wiederholt derartige Studien zu aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen wie beispielsweise zum Alkoholkonsum Jugendlicher, zum Eliteverständnis in Deutschland oder zur Bedeutung verschiedener Modelle der Kinderbetreuung durchgeführt.
Zu nextpractice
Das Bremer Beratungs- und Methodenunternehmen nextpractice wurde 2001 von dem Hirnforscher Professor Peter Kruse gegründet und ist auf die Entwicklung IT-gestützter Management-Werkzeuge spezialisiert. Die Einsatzgebiete reichen von der strategischen Netzwerkbildung über kulturelle Änderungsprozesse bis zu Fragen der Markenführung, der Marktanalyse und der Trendforschung. Peter Kruse lehrt als Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Das Unternehmen nextpractice wurde bereits mehrfach national wie international für seine Innovationen ausgezeichnet.
3 Antworten zu “Verliert das Mitmach-Web 2.0 an Faszination?”